Dezember 15th, 2007
Jetzt ist das ja so – bist du nicht todsterbenskrank und liegst trotzdem auf Station. Fragst du dich natürlich warum. Zurecht. Nur dass dieses Warum mehrere Seiten hat. Da hast du auf der einen Seite das Ding mit dem Zufall. Also Planung kannst du haben, aber dennoch – Zufall auch da. Von der anderen Seite blickt dich das Schicksal an – aus mehreren Augen. Links oben, rechts unten, von hinten auch. Aber der Reihe nach.
Der Plan hieß Operation. Hat irgendwann wer so ein Metall hineinoperiert, muss der das auch wieder herausoperieren. Und wenn man dafür eine kleine Reise auf sich nimmt. Jetzt warum Reise? Schau, für Metall im Bein braucht´s schon einen driftigen Grund. Beinbruch ist solch ein Grund. Beinbruch, weil unglücklich Schlitten gefahren, genauso Grund. Und Beinbruch, weil unglücklich in Garmisch Schlitten gefahren – Erklärung für die Reise. Dazu musst du wissen, dass ich in Dresden wohne. Dresden-Garmisch ist bekanntlich nicht die kürzeste Entfernung. Mit dem Zug bist du eine große Weile unterwegs. Nachts lässt sich solch eine Weile am besten überbrücken, weil du die Weile dann wegschlafen kannst. Insofern ist der Nachtzug für Langstrecken eine wärmste Empfehlung. Blöd, wenn es im Nachtzug an eben dieser Wärme fehlt. Doppelt blöd, wenn dies nicht nur kalte Füße, sondern ein paar Beschwerden mehr zur Folge hat. Und so richtig blöd wird´s, wenn dir solch ein Zufall einen längeren Stationsaufenthalt im Krankenhaus beschert. Aber schau, von links herüben äugt das Schicksal und serviert dir gar außergewöhnliche Begegnungen. Außergewöhnlich. Trifft es das? Besser vielleicht nachhaltig, einprägsam. Aber am besten du machst dir selbst ein Bild.
Ich bin dort im Krankenhaus zwei Menschen begegnet. Sie konnten gegensätzlicher nicht sein. Und das von außen wie von innen. Wobei das Äußerliche jetzt hier keine Rolle spielt, denn eine Hülle unterhält sich nicht mit dir, gibt dir keine Ansichten preis, verrät nur wenig über die augenblickliche Verfassung. Aber genau um diesen seelischen Spiegel geht es. Schaust du hinein, schaust du dich an – nur andersherum. Perspektivenwechsel. So etwas ist manchmal erschreckend, manchmal beruhigend, mitunter auch unterhaltsam oder nichts sagend. Im Fall meiner einprägsamen Begegnungen wohl eine Mischung irgendwie. Krissie und Klara. Eine laut, eine leise. Eine kindlicher, eine erwachsener. Eine perspektivlos, eine voller Pläne. Eine hilfsbedürftig, eine selbständig. Welche ist nun welche. Wer ist älter, wer jünger? Und welche Rolle spielt man selbst dabei?
Krissie, 27 Jahre, 18. Knieoperation und kein Ende in Sicht. Ich weiß inzwischen um einen Großteil ihrer Katastrophen. Aber keine Sorge, die Geschichten gehen ihr nicht aus, also auch für dich welche übrig. Nicht falsch verstehen, ist weniger komisch als du glaubst. Denn versucht man zu verstehen, warum ein Mensch derart um Aufmerksamkeit bettelt, färben sich ihre Schilderungen eher tragisch. So viele Krankheiten innerhalb weniger Stunden kann ein junger Mensch nicht haben. Oder drastischer ausgedrückt, so viel Panik nach Hause zu müssen, dass man den Krankenhausaufenthalt auf unbegrenzte Zeit zu verlängern versucht, kann nach außen nur Verwunderung auslösen.
Klara, 19 Jahre, erste Operation, voller Neugier. Sie will Medizin studieren, hinterfragt, liest zwischen den Zeilen. Menschenschicksale gehen ihr nah – auch das von Krissie. Herz gepaart mit Verstand. Und ihre Vorstellungen sind so unverbraucht, herrlich ungetrübt. Das Leben noch vor sich. Klingt verrückt, aber unterhältst du dich mit ihr, schwappt ein bisschen von diesem Lebensgefühl über. Zack Wissensdurst, Lebensfreude, Probierlust, all die Dinge da.
Ja, verwunderlich ist es, dass man innerhalb von drei Tagen, solch private Bereiche betritt – und Seeleneinblicke sind mehr als privat. Interessant dabei, den Einblick gab am ehesten Krissie. Klara und ich schauten in den Spiegel hinein. Anfangs mehr oder weniger hilflos. Oder wie hättest du reagiert, legt dir jemand sein Innerstes zu Füßen, der es gewohnt ist, dass man ohne Zögern drauf tritt? Dabei unterstell ich niemandem Vorsatz. Denn ehrlich gesagt, beinah wäre ich auch drauf getreten. Ein irritierter Blickwechsel mit Klara. Stopp. Nachdenken. Was passiert hier? Da bittet ein Mensch um Hilfe. Auf sehr ungewöhnliche Art und Weise, zugegeben. Und dennoch, es ist ein Hilferuf. Klara schien das eher registriert zu haben. Zu meiner Verteidigung sei erwähnt, sie will seit ihrem 10. Lebensjahr Ärztin werden, Helferinnenblick besser ausgebildet. Ihre Diagnose war richtig. Und so stellten wir Krissie das Rezept „Verständnis“ aus. Das wiederum hieß Zuhören, für sie da sein und ihr Mut machen.
Ein stabiles Elternhaus, wahre Freunde – einmal mehr begriffen, wie groß die Bedeutung. Denn woher schöpfst du deine Kraft, weiterzumachen, aufzustehen, wenn einmal hingefallen? Genau aus diesem Gefühl von Geborgenheit. Keine Frage, manchmal kommt es abhanden. Aber nicht weil es nicht mehr da ist, wohl eher weil vergraben. In solch einem Moment dann seelischer Spiegel gut.
Damit du jetzt nicht den roten Faden verlierst – so ein Schicksal wie das der Krissie ihres zeigt dir spiegelbildlich, dass fehlende Geborgenheit anders ausschaut. Zeigt dir, dass du nicht alles mit dir allein ausmachen musst. Zeigt dir, dass du durchaus geben kannst. Ohne Gegenleistung. Zeigt dir, wie stark du bist und wie schwach du auch einmal sein darfst. Und dass nun die Klara dabei gestanden ist, irgendwie doppelter Beweis, weil hat sie dir den Spiegel auch noch von hinten hingehalten. Jetzt weiß ich natürlich nicht, was die Klara im Spiegel gesehen hat. Aber vermuten kann ich es. Ich glaube, sie ist ein bisschen erschrocken. Denn mit solch einem Gegensatz rechnest du ja nicht. Hast du bestimmt im Fernsehen schon das eine oder andere Schicksal mit verfolgt, aber so in echt doch wieder anders. Da kann ich den erschrockenen Blick der Klara verstehen. Also da, wo ich eher irritiert dreingeschaut hab, sie mehr den Schreck im Visier. Der Schreck hat ihr vor Augen geführt, wie schnell man das Ruder im Leben verlieren kann. Und wie wichtig der Halt von Familie und Freunden ist, der einem die Kraft gibt, das Ruder richtig festzuhalten.
Das soll nicht heißen, dass die Ärzte da gar keinen Blick für gehabt hätten. Nur auf der unfallchirurgischen Station schaust du eben mehr physisch innen herein. Aber einer der Ärzte auch ein bisschen den Sinn für das psychische Innen gehabt. George haben wir ihn genannt, weil der hat doch so eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Schauspieler aus Emergency Room gehabt. Und zum Wegtauchen blaue Augen noch dazu. Da bist du natürlich gerne Patientin. Ist jetzt aber nicht das gleiche wie bei der Krissie. Also ganz eine andere Geschichte. Wobei ich schon noch erwähnen muss, dass dieses Krankenhaus überdurchschnittlich viele nett ausschauende Ärzte beherbergt – Hollywood Klinik, wenn du so willst, weil Matt Damon hab ich auch die Hand geschüttelt. Wortwechsel witzig und kurzweilig zweifellos – hast du geglaubt, spielst eventuell doch im nächsten Ocean´s-Film mit.
Ja, von ihrem Handwerk verstehen die was – da meine ich jetzt weniger das Schauspielerische, mehr so das Chirurgische und gesundheitlich Aufklärende. Die Schwestern und Pfleger ebenso alle lieb – kein böses Wort. Okay, bei der Krissie manchmal etwas ungeduldig. Haben sie ja nicht für jeden ewig viel Zeit. Bekommst du nicht zu spüren, solange dein Leiden im Normbereich. Bei der Krissie aber natürlich außer der Norm – drum die merkliche Ungeduld. Hat doch schon der Nächste geklingelt. Und wirklich helfen? Ja wie denn, wenn rein physisch alle Werte in Ordnung. Hier muss ich die Schwestern ein bisschen in Schutz nehmen, weil eine psychiatrische Ausbildung haben die bestimmt nicht gehabt. Auf der anderen Seite Unterschiede gab es schon. Also eine mehr, eine weniger geduldig. Die Pfleger durch die Bank weg alle geduldig.
Die Krissie ist dann freitags entlassen worden, die Klara auch. Kontakt trotzdem weiter da. Und Katastrophen-Geschichten bei der Krissie genauso weiter. Meine Operation verlief glücklich und der restliche Aufenthalt im Krankenhaus war entspannt. Okay, hat die Krissie immer wieder angerufen. Was wirklich okay war, weil hatte ich Zeit und gute Ratschläge übrig. Eine neue Erfahrung für mich. Auch die Schreiberei. Und die anderen Telefonate… Ich will dich nicht durcheinander bringen, nur musst du wissen, dass es manchmal ein paar Geschehnisse mehr braucht, um das eigene Selbst richtig zu erkennen – also richtig richtig. Denn allzu oft haben wir ein Bild von uns, das so gar nicht der Realität entspricht. Und wir verstecken uns dahinter. Im schlimmsten Fall vergraben wir unser Selbst – tief. Was dann bleibt, ist das verschobene Selbstbild, das wir mit der Zeit tatsächlich adaptieren. Aber im besten Fall begegnest du jemandem, der den Schlüssel zu dir, deiner Seele, deinem Selbst in sich trägt. Er wird sehen, was du siehst und andersherum. Ihr betretet euer gemeinsames Seelenspiegelkabinett, wandelt gemeinsam durch eben jenes – ganz unbeschwert. Dann erkennst du dein Selbst und alles ist richtig.
Gewidmet der Person, die mir zu besagter Zeit gedanklich am nächsten war.